Wann beginnt das Leben?
aus FUTURE 3/2001













Es gibt ein Leben vor dem Tod, so viel ist sicher. Das Leben endet mit dem Tod, dessen Eintritt sich eindeutig feststellen lässt. Wann das Leben beginnt, ist dagegen seit jeher umstritten - ja, es ist sogar fraglich, was Leben überhaupt ist. Noch bis vor nicht allzu langer Zeit war diese Frage nur von akademischem Interesse. Heute spielt sie eine so wichtige Rolle in der öffentlichen Diskussion, dass sie sich bis in die Schlagzeilen der Regenbogenpresse widerspiegelt. Das ist den Stammzellen zu verdanken.
Im Dezember 1998 hatten amerikanische Forscher erstmals darüber berichtet, dass es ihnen gelungen sei, stabile Kulturen von menschlichen embryonalen Stammzellen anzulegen. Das war eine Sensation, wie auch die bald darauf folgende Erkenntnis, dass erwachsene Stammzellen, wie sie sich etwa im Knochenmark finden, gezielt in bestimmte andere Zellen verwandelt werden können. Stammzellen sind die Quelle aller rund 50 Billionen Zellen unseres Organismus. Als unreife Zellen, denen beim Embryo noch alle, beim Erwachsenen viele Entwicklungsmöglichkeiten off]en stehen, können sie sich im Laufe der Zeit zu spezialisierten Zellen für Muskeln, Nerven oder Haut ausdifferenzieren. Sie sind gewissermaßen der Jungbrunnen des Lebens, aus dem die Medizin der Zukunft Ersatz für Patienten mit vielerlei degenerativen Krankheiten zu schöpfen hofft. Humane embryonale Stammzellen (HES) haben das größte Entwicklungspotenzial. Sie werden aus wenige Tage alten Embryonen gewonnen, die nach einer künstlichen Befruchtung übrig geblieben sind. Wie und ob sich das therapeutische Potenzial von Stammzellen verwirklichen lässt, ist ungewiss. Deutlich ist dagegen das grundsätzliche ethische Dilemma: Dürfen wir Embryonen zerpflücken oder herstellen, um sie für Forschungszwecke zu verwenden? Dürfen wir einen solchen Eingriff verbieten, auf dessen Grundlage sich eventuell das Leben vieler Menschen retten lässt? Und: Könnten mit erwachsenen Stammzellen, den adulten Stammzellen, nicht die gleichen Ergebnisse erzielt werden? Ist ein fünf Tage alter Embryo lebendig oder nur ein lebloser Zellhaufen? Wann beginnt das Leben? - eine Frage, zu der führende Wissenschaftler - Genetiker, Biologen, Mediziner - aus den USA, Frankreich, der Schweiz, Japan, Großbritannien und Deutschland Stellung nehmen.
Mehr als die Summe der Gene
Wir wissen, dass heute wie in der Vergangenheit verschiedene Kulturen den Zeitpunkt des Beginns der Zuschreibung des Menschseins gegenüber dem sich entwickelnden Embryo oder Fötus sehr verschieden gewählt haben und noch wählen, selbst bei genauer Kenntnis der Tatsache, dass der Embryo seinen Entwicklungsanfang in der Vereinigung von Ei- und Samenzelle hat. Die eigentliche biologische Entscheidung' zur Menschwerdung fällt daher tatsächlich mit der Einnistung des Keimes im Uterus, nicht schon mit der Befruchtung. Im Gegenteil will es mir scheinen, als ob die alleinige Fixierung des Menschenwesens auf den Besitz eines Satzes menschlicher Gene von denen wir zudem auch noch einen sehr hohen Prozentsatz mit vielen anderen Tieren identisch gemeinsam haben - und die als hochmoralisch bewertete willenlose Hinnahme jedes Zufallsunglücks in der Beschaffenheit dieses Gensatzes, den Gipfel eines Biologismus bedeutet, der den Menschen tatsächlich zum reinen Biowesen degradiert und ihm genau das abspricht, was ihn eigentlich erst zum Menschen macht: seine kulturbedingende Entscheidungsfreiheit"
Prof. Dr. Hubert Markl, Zoologe, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft
Differenzieren statt vereinfachen
Es gibt viele Definitionen des Lebens. Kein Zweifel besteht darüber, dass eine Zelle lebt, dass sie Leben darstellt. Wie wir ,Organismus' definieren, ist aber eine andere Frage. Eine Zelle ist nicht notwendigerweise ein Organismus. Wenn ich eine Hautzelle nehme und eine Kultur anlege, wird diese Zelle leben, wird sich teilen und manches tun, dem wir Merkmale des Lebens zugestehen würden. Sie bildet aber keinen Organismus. Ich hätte nicht die geringsten Vorbehalte, von irgendwelchen Hautzellen eine Kultur anzulegen und sie nach Abschluss des Experiments wegzuwerfen. Der Organismus ist der Mensch, und ihm würde ich keinen Schaden zufügen. Leben ist nicht dasselbe wie ein Leben"
Prof. Dr. Harold Varmus, Medizin-Nobelpreisträger, leitete über viele Jahre die National Institutes of Health
Nicht jede Zelle ist Leben
Ich schreibe einer Ansammlung von Zellen im Reagenzglas, die durch Befruchtung im Labor entstand, nicht den Status menschlichen Lebens zu. Das Schicksal dieses Zellhaufens unterliegt der freien Entscheidung verworfen zu werden, durch die Frau und den Mann, die zu seiner Entstehung beitrugen"
Prof. Dr. Stephen Jay Gould, lehrt in Harvard und New York
Einzigartig und komplett
Die Erkenntnisse der modernen Biologie lassen zweifelsfrei den Rückschluss zu, dass mit der Vereinigung der beiden Vorkerne von Ei. und Samenzelle die genetische Identität des entstandenen menschlichen Lebens eindeutig fixiert ist. Mit die sem Schritt wird die einzigartige, genetisch unverwechselbare Existenz des menschlichen Lebens begründet. Zu diesem Zeitpunkt ist das genetische Geschlecht des soeben entstandenen menschlichen Lebens eindeutig festgelegt."
Priv. Doz. Dr. Josef Wisser, Oberarzt der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsspital Zürich
Frage der Software
Das Wesentliche am Leben war von Anfang an die Homöostase, also die Gesamtheit der physiologischen Regelvorgänge, die auf einem komplizierten Geflecht von Molekülstrukturen beruht. Das Leben widerstrebt daher grundsätzlich einer Vereinfachung, sei es auf der Ebene einzelner Zellen oder auf der Ebene ökologischer Systeme oder menschlicher Gesellschaften. Das Leben kann einen exakt reproduzierenden molekularen Mechanismus nur tolerieren, indem es ihn in ein Übertragungssystem integriert, das es erlaubt, die Kompliziertheit des molekularen Geflechts in Form von Software auszudrücken."
Prof. Dr. Freeman Dyson, Koryphäe der theoretischen Physik
Gehirnfunktion als Index
Diese scheinbar einfache Frage trotzt einer einfachen Antwort, weil es keine allgemein anerkannte Definition des Wortes Leben gibt. Von den Definitionen im Lexikon bietet eine - diejenige als,Merkmal, das einen lebendigen Körper von einem leblosen unterscheidet' - einen juristisch brauchbaren Ansatz. In den Vereinigten Staaten gilt ein Mensch im juristischen Sinne erst dann als tot, wenn die Hirnfunktion ausgesetzt hat, und nicht schon, wenn die Herzfunktion ausgesetzt hat. Daher könnte man sagen, das Leben beginnt erst dann, wenn sich im Embryo die Gehirnfunktionen herausbilden; das geschieht aber eher Wochen als Minuten, Stunden oder Tage nach der Befruchtung. Daher meine ich, dass ein eingefrorener zwei bis drei Tage alter Embryo, der noch nicht in die Gebärmutter einer Frau gelangt ist, noch nicht lebt.
Prof. Dr. Carl Djerassi, Chemie an der Stanford University in Palo Alto, Erfinder der Anti-Baby-Pille
Die Befruchtung ist der potentielle Startpunkt
Es beginnt eindeutig mit der Befruchtung. Aber ein menschliches Wesen entsteht dabei nur der Möglichkeit nach. In vielen Fällen und selbst bei der Mehrzahl der auf normalem Weg erfolgten Befruchtungen bleibt der Erfolg aus. Die meisten Embryonen entwickeln sich einfach nicht, und das nicht nur, weil es zu einer Fehlgeburt kommt, sondern auch schon vor der Implantation. Bei der In-vitro-Fertilisation werden zahlreiche menschliche Embryonen erzeugt. Die überschüssigen werden entweder in flüssigem Stickstoff aufbewahrt, oder aber, und das ist der Normalfall, man spült sie buchstäblich durch den Ausguss. Da muss man sich doch ernsthaft fragen, ob es nicht besser wäre, sie für sinnvolle Forschung zu verwenden"
Prof. Dr. Austin Smith, Biologie an der Universität Edinburgh, Vater von Klonschaf Dolly
Reproduktion ist das Wesentliche
Wann beginnt Leben? Wie können wir Leben definieren? Eine Definition, der wohl jeder zustimmen kann, ist vielleicht die: ,Etwas ist dann lebendig, wenn es die Fähigkeit zur Reproduktion besitzt.' Wenn wir das annehmen, dann kommen wir zu dem Schluss, dass auch eine embryonale Stammzelle Leben darstellt; und wir können sagen, das Leben beginnt schon in diesem Stadium. Vorausgesetzt, wir können Stammzellen aus den Zellkernen von Zellen erzeugen, die wir einem Menschen entnehmen, der bereits hirntot ist, dann liegt auch in diesem Menschen eigentlich noch Leben vor. Doch diese Überlegung berücksichtigt nur die rein biologische Sichtweise. Man muss sich unabhängig davon darüber klar werden, ob es ethisch vertretbar ist, embryonale Stammzellen zu verwenden, und ob der Hirntod allein schon den Tod eines Menschen bedeutet."
Prof. Tadamitsu Kishimoto, Präsident der Universität von Osaka
Gegenfrage. Was ist Rot?
Was Leben ist? Meinen Sie das menschliche Leben oder das Leben im Allgemeinen? Das ist ein Unterschied. Das Leben im Allgemeinen ist alles, was die Entropie verringern kann und sich reproduziert. Aber diese Aus. sage reicht nicht aus, den Beginn des menschlichen Lebens zu definieren. Das ist im Grunde Ansichtssache, ähnlich wie die Definition einer Farbe. Was ist Rot?"
Prof. Dr. Gregory Benford, Physik an der University of California (Irvine)
Wenn Föten lebensfähig werden
Das künftige Leben existiert schon vor dem Embryo in Form von Spermien und Eizellen. Der Embryo ist nur eine Weiterentwicklung, er ist eine potenzielle Person. Die Würde, die man ihm zuschreibt, ist meiner Meinung nach progressiv. Zum Beispiel gibt es kein Begräbnis für eine Fehlgeburt. Das französische Recht ist da sehr klar: Die Grenze ist die 22. Schwangerschaftswoche. Davor wird der Fötus nicht als Person ins Geburtenregister eingetragen. Das zeigt, das Leben wird in seinen verschiedenen Stadien durchaus unterschiedlich bewertet. Nach der 22. Woche ist der Fötus lebensfähig, wenn ihm medizinisch geholfen wird. Davor sind die Organe nicht hinreichend entwickelt. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied."
Prof. Dr. René Frydman, Gynäkologe in Paris, Berater des französischen Forschungsministerium - unter anderem in Fragen der Bioethik
Das Leben, ein Kreislauf
Das Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Aber: auch Samen- und Eizellen sind für sich menschliches Leben. Menschliches Leben hat letztlich keinen Anfang und Ende, sondern ist ein Kreisprozess, der sich immer wieder auf die Keimzellen reduziert."
Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident der deutschen Forschungsgesellschaft, Mitglied des Nationalen Ethikrates
Verantwortung zählt
Wir können es uns nicht leisten, eine neue Technik nicht weiterzuentwickeln, insbesondere, wenn daraus eventuell neue Behandlungsmethoden gegen Volkskrankheiten entstehen könnten. Es ist in diesem Kontext noch unklar, ob eine adulte Stammzelle dasselbe Potenzial hat wie eine embryonale. Deshalb muss man beide Wege nebeneinander gehen, bis man weiß, welche Methode zum Erfolg führt. Selbstverständlich müssen die neuen Technologien, zum Beispiel bei der Verwendung von embryonalen Stammzellen, verantwortungsvoll durchgeführt werden."
Prof. Dr. Annemarie Poustka, Genomforscherin am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg
Jede Grenzziehung ist künstlich
Ei- und Samenzellen sind ,lebendig', aber nur in einem unbestimmten und biologischen Sinn. Das Ei und der Embryo besitzen zwar die genetische Anlage für die Entwicklung zum Menschen, aber auf keinen Fall seine Merkmale und Eigenschaften. Tatsächlich entwickelt sich aus dem möglichen Beginn menschlichen Lebens allmählich eine Person, aber jeder Versuch, in diesem Kontinuum eine Grenze zu ziehen, die beim Menschen den eigentlichen Beginn des Lebens markiert, wäre künstlich. Die Einzigartigkeit des menschlichen Embryos rechtfertigt auch die besondere Rücksicht, die er genießt. Und dennoch ist diese Rücksicht anderer Natur als jene, die wir einem tatsächlichen Menschen entgegenbringen."
Prof. Dr. Axel Kahn, Genetiker und Mediziner, Direktor des Institut Cochin de génétique moléculaire Paris
